Frühwarnsystem Social Media: Videostream dokumentiert live Tierquälerei und häusliche Gewalt

Live auf der Videostreaming Plattform Twitch misshandelt ein angeblich Jugendlicher seine Mutter, wird selbst misshandelt und vergeht sich dann an seiner Katze. Schnell werden die Details auf sozialen Kanälen geteilt und auch auf Doxxing Plattformen. Der Fall #Katze trendet kurzzeitig auf Twitter Deutschland. Hunderte stimmen in die Hetzjagd gegen den Streamer mit ein und erklären, wie abscheulich sie die Tat gegen das hilflose Haustier finden. Der Fall zeigt, wie weit Social Media User gewillt sind zu gehen, um Rache an jemanden zu nehmen. Selbstjustiz mithilfe von Doxxing lautet das Motto von vielen. Selbst als Opfer häuslicher Gewalt wird der junge Mann dabei selten wahrgenommen. Missbrauch zu Hause ist dabei nichts Neues. Neu ist, wie die Gaming Streaming Community, die Gewalt und Misshandlung dokumentieren kann. Die meisten schauen trotzdem weg. Was kann die Strafverfolgung von diesem Fall lernen? Was die Gesellschaft. Verbirgt sich hinter der Hetzjagd nach dem Täter eventuell mehr, vielleicht ein mögliches Frühwarnsystem gegen häusliche Gewalt? Fakt ist: wenn jemand von seinem Vater vor laufender Kamera geschlagen wird, interessiert das weniger als wenn Haustiere misshandelt werden. Könnte der Fall des jungen Katzenquälers helfen, um der Polizei neue Wege zu aufzuzeigen, um zukünftige Taten und Opfer häuslicher Gewalt zu identifizieren? Eventuell früher einzugreifen? Die Polizei richtet aus, die Person soll vor weiterem Doxxing geschützt werden. Eine investigative Spurensuche nach der Lektion dieses Falls beginnt.

Techjournalist
6 min readNov 18, 2022

Der Streamer auf der Gaming-Streaming-Plattform Twitch ist aktiv in die Community eingebunden. Er hat über 2000 Follower. In seinem Kanal lacht er viel, tauscht sich aus. Dann gehen schreckliche Videos viral. Es werden immer wieder Streams geteilt, in denen er seine Haustiere schlägt. Einen Hund soll er haben. Den misshandelt er. Auf grausame Weise auch eine seiner zwei Katzen, dokumentiert im Livestream Videoformat. Dann tauchen immer krassere Szenen auf. In einem Video sieht man, wie die goldfarbene Katze aufgeschnitten auf dem Schoß des Jungen liegt. Diese Videos gehen viral. Tausende klinken sich in die Diskussion ein. Damit startet eine Hetzjagd nach dem Jungen.

Zwar sind Lebenszeichen der Katze zu dem Zeitpunkt, an dem das Video gemacht wurde, teils vernehmbar — ein zuckendes Ohr des Haustieres als der Streamer die Haut weiter abzieht. Was danach mit der Katze passiert, ist jedoch unklar. Es soll Fotobeweise geben, dass das Tier tot sei.

Wie nie zuvor dokumentieren Videos auf Twitch das Leben der Jugend im Detail mit ihren mentalen Problemen. In diesem Fall, eines wohl kranken Jungen in schwierigen häuslichen Verhältnissen. Einerseits zeigen sie, wie er es regelrecht genießt, Tiere zu quälen. Aber auch Beispiele, dass sein Zuhause kein sicherer Ort ist.

Ein Fehlverhalten gesteht er nicht ein. Auch das ist in Videostreams dokumentiert. Zwei Katzen soll er haben. Ein Hund. Bereits 18 soll er sein. Viele dieser Details kommen erst zutage, nachdem gleich mehrere Doxxing Einträge private Details des Jungen posten. Internetnutzer sind angepisst. Die Videos sind grausam. Eine Atmosphäre von Selbstjustiz verbreitet sich in der Luft. So sammeln Nutzer gemeinsam alle möglich Details. Bis hin zu dem Punkt, dass jemand postet, er sei gewillt, den Jungen persönlich zu besuchen. Von Details zu spezifischen Psychopharmaka, die die Person nehmen soll, bis hin zu Kinderbildern des Streamers, ist die Rede. Wenige Mitglieder der Community stört es dabei, dass der junge Mann durch das Doxxing selbst in Gefahr geraten könnte.

Fakt ist: Doxxing ist illegal. Nach dem Paragraphen § 126a StGB verbieten einfachen Worten, Personen Informationen über andere zu publizieren, wenn durch die Publikation dieser Daten eine Gefährdung der Person möglich ist. Die Community kümmert das wenig: der Zweck heilige die Mittel.

Selbst ein Opfer

Nur wenige erkennen , dass der junge Mann wohl selbst ein Opfer häuslicher Gewalt ist. Zwar werden Videos geleakt, in denen der Junge vor laufender Kamera von seinem Vater direkt ins Gesicht geschlagen wird. Social Media Accounts spotten aber, dies habe wenig damit zu tun hat, dass der Junge nun zum Tierquäler wurde.

Wissenschaftliche Studien zeigen aber einen Zusammenhang. Sie zeigen auf ein Gewaltdreieck, das zwischen häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch und Misshandlung und pathologischer Tierquälerei besteht. Wer zu Hause Gewalt selbst erfährt, unterliege einer größeren Gefahr zum Quäler zu werden. Irgendwie müssen diese Erfahrungen verarbeitet werden. Tierquälerei sei eine Form dafür.

Hätte das Verhalten des Jungen jemanden früher auffallen können? Durchaus. Seit Jahren ist der Streamer unterwegs. Die Videostreaming Community verhält sich lange Zeit zurückhaltend. Doch mit dem Video von der gequälten Katze läuft bei einigen engen Kontakten das Fass nun über. Ihnen wird es jetzt zu extrem.

Nach der Misshandlung der Katze werden kritische Stimmen auch außerhalb des Kanals laut. Besonders auf Telegram wird der Fall diskutiert. Viele fordern Rache. Der junge Mann solle doch schnellstmöglich beweisen, dass die Katze noch lebt. Anfangs behauptet er, sie sei tot. Später behauptet er, sie sei wohl auf. Einsicht zu dem, was er den Tieren antut, habe er nicht. Zum Teil schiebt er die Schuld auf die Medikamente. Zu der Kritik von Streamer Kollegen Crowie zu seiner Taten, sagt er nur lachend, er fände eh alles nur witzig. Genau diese Reaktionen des Jungen treiben den online Pöbel später dann weiter an.

Weiß man nichts von seinen Misshandlungen gegen die Haustiere, wirkt der Junge eigentlich wie viele anderen junge Gaming Streamer. Mit seinem kurzen Haarschnitt, Ausdrücken, und dem breiten Lächeln wirkt er wie ein typischer Teenager in der Pubertät.

Gefährlich wirkt er aber nicht. Dass dieser Mensch offenbar mit mentalen Problemen kämpft, ist aber trotzdem unschwer in den Videos zu erkennen. Der Mix an eindrücklichen Situationen macht das sichtbar. Misshandlung vom Vater, Probleme mit der mentalen Gesundheit, die ihn dabei zeigen, wie er sich Gegenstände einführt oder in Flaschen uriniert. All dies muss den Kollegen in der Streaming-Gesellschaft, die den Nutzer kannten, schon längst bekannt gewesen sein. Interveniert hat keiner.

Selbstjustiz durch Doxxing

Nach den Katzenvideos steigt schnelle die breite Social Media Öffentlichkeit in die online Hasstiraden gegen den Streamer ein. Von der Twitch Community geht es nach Telegram, wo hunderte junger Leute dem Fall all ihre Aufmerksamkeit schenken. Ob der Junge seine Katze wirklich getötet, ist dabei immer noch nicht klar. Trotzdem wird von einem Account gepostet: “Ich geh den bastard jetzt besuchen”.

Am 16. November werden dann nicht nur Videos geteilt. Dort ist es auch, wo sich eine regelrechte Hetzjagd gegen den Jungen entfacht, und zwar mit der Adresse des Familienhauses des Jungen. Gleich mehrere Doxingeinträge weißen auf eine Adresse in Ostdeutschland hin. User lechzen nach Vergeltung.

Zwar sagen Kommentatoren zu den Einträgen, dass es sich hier um falsche Information handele. Aber offene Daten lassen sich nutzen, um die Adresse zu verifizieren — teils durch eine Internetsuche, die alte Bilder des Hauses finden lassen, die wohl zur Vermarktung des Objekts einst dienten.

Als der Fall auf Twitter trendet, meldet sich die Strafverfolgung zu Wort. Die Polizei warnt Nutzer davor, persönlichen Daten zu den verstörenden Videos zu teilen. Ermittler Quellen berichten, der Polizei wurde bereits ein Dossier mit Daten zu dem jungen Mann zu Verfügung gestellt.

Moralische Beurteilung

Die Dokumentation des Lebens des Streamers, die Gewalt, die Quälerreich, alles auf Video, ist beispiellos. Videostreaming ermöglicht es, häusliche Gewalt und Personen mit psychischen Problemen ausfindig zu machen. Es könnte eine wichtige Lektion für die deutsche Strafverfolgung und für Sozialdienste sein. Sie hätten hier mithilfe der Community aktiv werden können.

Ein Fellow Streamer schreibt auf Twitter er habe im Stream nach dem Katzenvideo mit dem Jungen persönlich gesprochen. Es habe sich schnell herauskristallisiert, dass dieser das Thema eher lustig findet. „Er konnte auch keine Beweise dazu vorlegen, dass die Katze noch lebt / er Medikamente nimmt“.

Experten für Hass im Netz, die oftmals den Strafverfolgern mit Daten unter die Arme greifen mussten, kritisieren die Streamer Community. Über die letzten zwei Jahre habe sich keiner dazu bereit erklärt und verpflichtet gefühlt, das Verhalten den Jungen zu melden, sagt eine.

@n3ll41, eine OSINT Spezialistin und Hacktivist gegen Hass im Netz, kommentiert den Fall: “Bei (dem Jungen) muss einiges schiefgelaufen sein, allein wenn wir den Vater des Jungen betrachten, der den Jungen vor der Kamera schlägt oder die Mutter, die vorbeiläuft, während er sein Hund schlägt“.

Die generelle Gewalt gegen die Katze und seiner Mutter, Bilder der toten Katze, all das seien einschlägige Alarmzeichen gewesen. Jemand hätte handeln müssen, sagt sie.

Dabei kritisiert sie, dass nicht genug hingeschaut wurde: “Dass Kommentare fallen wie „er bekommt mehr Probleme” oder „es macht sowieso keiner was” etc sind Argumente die zeigen in was für eine „Wegschau” Gesellschaft wir leben”.

Die Meldepflicht ist dabei ein wichtiger Punkt: “Wer das nicht meldet und zusieht, ist mitschuldig”, schreibt sie..

TJ

--

--

Techjournalist

Investigative journalist with a technical edge, interested in open source investigations, satellite imgs, R, python, AI, data journalism and injustice